Von der Einöde in die Wildnis

Tag 12 – Von Anduze zum Lac du Salagou

Wie das an Tagen, an denen man sich besonders große Streckenabschnitte vorgenommen hat, ebenso ist, wacht man mit einem mäßig ordentlichen Kater auf. Dem Bierkonsum am Vorabend sei es gedankt. Dennoch, kein Grund hier irgendetwas zu bereuen. Zu diesem Zweck hat der liebe Gott schließlich die kalte Dusche erfunden.

Der Weg führte mich heute mit mehr oder minder kleinen Variationen an bekanntem Terrain vorbei. Unter anderem begleitete mich genau jene Bergstraße, die mich 2016 bereits in die Verzweiflung trieb. Und das nicht etwa, weil es, wie es einer Bergstraße so eigen ist, ein ganz ordentliches Stück den Berg hoch ging. Nein, es tummelt sich hier einfach seit nun bereits mindestens 3 Jahren viel zu viel Müll im Straßengraben. Damals ebenfalls bemerkt, jedoch mit einem Kopfschütteln aufgrund fehlender Stauraum-Möglichkeiten abgetan, hatte ich dieses Mal meine Tomatenkiste mit dabei. So konnte ich zumindest einen kleinen Teil dessen entfernen, womit die Autofahrer von heute meinen, die Natur zu „verschönern“.

In diesem Sinne möchte ich einen Appell an alle Kraftfahrer der heutigen Zeitrechnung aussprechen: Ich weiß, jene, die hier in meinem Blog stöbern, haben wahrscheinlich noch nie im entferntesten daran gedacht, überhaupt nur etwas annähernd müllähnliches aus dem Fenster zu werfen. Leider liebe Leser, spricht die Natur andere Bände, und das nicht gerade in hohen Tönen, und zwar über eure werten Kollegen.

Wie hat Christoph Brumme in seinem netten Buch „111 Gründe, das Radfahren zu lieben“ doch so passend bemerkt: Im Auto befindet man sich in einem geschlossenen System, abgeschottet und in keinem Bezug zur Umwelt um sich herum. (…so oder so ähnlich hat er sich da glaub ich ausgedrückt.) Sprich, alles was einem nicht in die Karosserie passt, kann man ja einfach rausschmeißen. Denn mit dem da draußen hat man ja eh nicht besonders viel am Hut, bis auf das man kurz mal daran vorbei fährt.

Mir fehlt jetzt leider ein Einfall zur passenden „Moral von der Geschicht“, allerdings muss man zu dem Thema ja auch nicht besonders viel hinzufügen. Es sollte allen klar sein, dass leere Getränkedosen, Tetrapaks und vollgepinkelte Plastikflaschen nichts in der Natur verloren haben. Es gibt genügend Mülleimer an Rastplätzen und in Städten, wo man das alles entsorgen kann. Und auch die hochgelobten Radfahrer muss ich hier tadeln: Bitte packt doch eure kleinen Energie-Gel Päckchen, nachdem ihr sie leergesaugt habt, wieder zurück in eure Fahrradtasche. Oder esst zur Abwechslung einfach mal einen Apfel!

Reinfall des Tages war eine Stadt namens St. Hippolyte du Fort. Ganz schmuckes Städtchen an sich. Nur absolut unmöglich dort kurz vor 14 Uhr noch etwas zu Essen, geschweige denn etwas kühles zu Trinken aufzutreiben. Und ich sag euch Leute, wenn man als Frühstück nach einer durchzechten Nacht allemal eine Packung Studentenfutter hatte, kann einen das – so energiereich Studentenfutter auch ist – so richtig zur Weißglut treiben. Denn man hat garantiert keine Lust noch eine weitere Packung Studentenfutter zu essen. So sah’s aus, das war alles, was von meiner Notnahrung noch übrig war. Und in der Stadt hatten alle Bars und Restaurants geschlossen. Und jene, die noch nicht geschlossen hatten, waren drauf und dran zu schließen und meinten, die Zeit bis sie denn letztendlich auch wirklich schließen würden, würde in keinem Fall auch nur für eine schnelle, kalte Cola genügen. Sie verwiesen mich dann zumeist auf die anderen Bars, die ja geöffnet haben müssten, jedoch ebenfalls geschlossen hatten. Ein absoluter Irrsinn, der wohl in Zukunft dazu führen wird, dass St Hippolyte du Fort in Bezug auf seine gastronomische Seite ganz klar bei mir verschissen hat.

Als ich mich missmutig mit leerem Bauch wieder aus diesem kulinarischen Loch heraus bequemte, meinen Frust unterwegs noch an ein paar Passanten abließ, denen es augenscheinlich auch nicht besser erging, traf ich sie dann: die ersten E-Cyclotouristen auf meiner Reise (vielleicht all meinen Reisen). Eigentlich handelte es sich ja genau genommen nur um eine Frage der Zeit, bis ich diesem neuen Radsport mal auf längerer Tour begegnen würde, denn das E-Bike ist halt doch schon lang kein gesellschaftliches Nischenprodukt mehr.

Normalerweise wird man während einer Radtour ja mindestens einmal pro Tag von einem in sich rein lächelnden Senior überholt, für den dank elektronischer Unterstützung zwar jegliches Endorphin-Hoch bei einer Berg-und-Talfahrt unweigerlich flöten geht, dem man aber trotzdem gerne, und sei es nur für einen kurzen Moment, den E-Antrieb abschrauben möchte, vor allem dann, wenn es in St Hippolyte mal wieder nichts zu Essen gab.

Glücklicherweise begegnete ich meinen Mitstreitern auf annähernd ebener Strecke, sonst hätte ich im Geiste sicherlich schon ihre Fahrräder zerlegt, ehe man sich auf Englisch begrüßt und dann doch auf Deutsch weitergeredet hatte.

Wie ich jedoch schon so oft vermutete, gleicht auch eine längere Reise auf dem E-Bike nicht in geringster Weise dem, was man sich vielleicht darunter vorstellen möchte, während man bei sommerlichen Temperaturen den Vercors überquert oder so (wohlgemerkt hatte es inzwischen etwas abgekühlt, deswegen fehlt hier der Bezug zur Gluthitze der letzten Tage). Denn auch E-Biker müssen haushalten, allem voran mit der Energie. Zwar könnte man den einen oder anderen Ersatz-Akku mitnehmen, der wiegt aber meist erheblich mehr, als eine Packung Studentenfutter und gibt trotzdem nur Energie für 30 km (bei Vollauslastung), was für die Packung Studentenfutter ebenfalls kein Problem darstellt. Auch möchte der Akku und wahlweise auch der Ersatzakku gerne über Nacht aufgeladen werden, was ein Weilchen dauert und auch nur dann – wer hätte es gedacht – wenn ein Stromanschluss verfügbar ist. Ohne E-Antrieb erledigt man solcherlei Unterfangen innerhalb von 5 Minuten im nächsten Supermarkt. Dem hinzu gesellt sich, wie ich den Worten des E-Biker-Pärchens entnehmen konnte, schlicht und ergreifend die Tatsache, dass ein E-Bike prinzipiell eher schlecht als recht für die Beförderung einer einigermaßen brauchbaren Radreise-Ausrüstung ausgelegt ist und deswegen ab etwa 5% Steigung auch keine große Hilfe mehr darstellt, wenn man mit dem Akku haushalten will.

Da ich auf meinen Touren auch ohne E-Antrieb bereits genug Akkuprobleme hab – seien es die Handyakkus, die sich der Reihe nach verabschieden, der Computer, der ebenfalls nur an 230 Volt geladen werden kann oder mein Kameraakku, den ich dank eines ungeschickten Handgriffs beim Verstauen der Kamera während der letzten Nacht komplett entleerte und der mich deswegen heute morgen zu einer 30-Minütigen Zwangspause zwang – kann ich auf das ganze Gschieß mit noch mehr Akkus gerne verzichten und fluche stattdessen lieber ein bisschen über die französischen Dörfer, in denen es um 14 Uhr zwar sicherlich einen Stromanschluss gegeben hätte aber halt nichts mehr zu Essen.

Bei all der Flucherei vergaß ich schon fast, dass mich während der nächsten Kilometer eine schöne Abfahrt in Richtung Hérault erwarten würde. Dementsprechend groß war die Überraschung als ich das Bike endlich mal wieder laufen lassen konnte. Umso größer war sie, als mich die Abfahrt nun endlich in einen Ort führte, der etwas weniger Wert auf die hinterwäldlerischen Öffnungszeiten legte, als sein touristisches Pendant und ich dank dieses Umstandes nun auch endlich zu der langersehnten kühlen Coke kam. Weil es gerade so schön war, legte ich noch ein weiteres reichhaltiges Zuckergetränk nach und machte es mir an einem netten Fluss bequem. Auf die all so nötige Mahlzeit konnte ich nun dank der großzügigen Investition in Zuckerreserven auch herzlich verzichten und hielt es mehr mit der Doktrin: Jetzt erst recht! Was brauch ich schon ein Brötchen, wenn ich die nötige Energie auch in flüssiger Form zu mir nehmen kann? – Das sollen mir die E-Biker erst mal nachmachen!

Nun, wenn es zu einem Fluss hinab geht, geht es ihn unter Umständen auch bald wieder hinauf – oder auch nicht. Normalerweise eigentlich nicht beziehungsweise könnte man sich das aus der Fließrichtung des Flusses erschließen. Im Falle des Héraults war es dann aber doch eine eher unerschlossene Schlucht, die einer angenehmen Flussabwärtsfahrt leider ein paar ordentliche Argumente entgegenzusetzen hatte. Und für eine weitere Kajak-Tour wie anno 2016 fehlte mir irgendwie der Nerv. Also rüber über den Berg! Der vorletzte an diesem Tag.

Ich kürze jetzt mal im Erzählstrang etwas ab. Auf der Strecke war mir das zwar leider nicht gegönnt, aber man muss sich ja nicht unnötig wiederholen. Wie dem auch sei, die Zeit schriet voran und meine Zahnkränze bewegten sich nicht ungleich einem Uhrwerk, das einer genehmen Ankunftszeit am Lac du Salagou unweigerlich entgegen arbeitete.

In Clermont-l’Hérault kehrte ich noch schnell in einem der wenigen auserwählten Supermärkte, die auf der Strecke lagen, ein und rüstete mich für die Nacht. Dank Tomatenkiste gab es dieses Mal immerhin keine Probleme bezüglich des Stauraums, allerdings verlagerte ich den Schwerpunkt von Alfred unweigerlich gen oberes Drittel, was bei einer scharfen Kurve ganz klar dazu geführt hätte, den lang ersehnten Einkauf inklusive des Beutels Eiswürfeln für den Rosé wieder von der Straße auflesen zu müssen. Ganz abgesehen von dem Rosé, der den Berg hinunter gekullert wäre… Aber „Gott sei Dank“ ging es für die nächsten Kilometer inklusive Extra-Gepäck erstmal bergauf, deshalb stellten auch scharfe Kurven kein größeres Problem dar. Immer wieder ein Spaß mit 5-7 Kilo Extra den letzten Berg des Tages bewältigen zu müssen. Aber in Gedanken war ich bereits dabei das Ganze abends am Seeufer zu verspeisen. Und auch das kann ein enormer Antrieb sein. Wenn auch das „E“ in diesem Fall vielleicht eher mit „Einbildung“ gleichzusetzen ist.

Die Ankunft am Lac du Salagou, vor allem die Überquerung des letzten Passes, ist immer wieder ein erhabener Moment und eigentlich schon fast Tradition auf meinen Reisen. Ich habe seit meiner ersten Radtour nur wenig bis gar keine Variation in diesen Ablauf hinein gebracht. Es ist einfach perfekt, genau so wie es ist. Eine Nacht am Lac du Salagou und am Tag darauf die letzte Etappe von etwas um die 160 km bis nach Ste Marie. Doch so weit sind wir noch nicht.

Kurz vor Erreichen des letzten Passes stand die Sonne bereits tief am Himmel. So tief, dass man den Gegenverkehr wirklich nur mit zusammengekniffen Augen ausmachen konnte. Da das Seeufer bereits im Schatten der hereinbrechenden Nacht lag, gönnte ich mir noch ein kurzes Landebier in den letzten Sonnenstrahlen, bevor es dann zum auserkorenen Übernachtungsspot der letzten Jahre ging.

Kurz vor der Ankunft machten mich noch freundliche Seegäste auf das leidliche Problem des Wild-Campens aufmerksam, das am heutigen Tag bereits von einer Truppe übereifriger Polizisten geahndet wurde. Ich bedankte mich für die Info und tat das Problem damit ab, das jene Gesetzeshüter wohl kaum zweimal an ein und demselben Tag vorbeischauen würden. Trotzdem war ich vorgewarnt und würde mich für die hereinbrechende Nacht wohl auf meine Hängematte beschränken um etwas weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Im Morgengrauen wäre das Ganze dann auch um einen Zacken schneller abgebaut und ich um den selben Zacken zeitiger mit der Abreise dran. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Der See begrüßte mich dieses Mal netterweise mit keinem illegalen Rave wie anno 2016, so stand einer geruhsamen Nacht und einem frühen Start am nächsten Tag eigentlich nur wenig im Weg. Allemal eine Familie hatte in den späten Abendstunden noch Freude daran, sich ihre Eimer mit unter Naturschutz stehenden Krabben zu füllen, die um diese Uhrzeit in den Untiefen des Sees herumtollten und es in diesem Sinne der Familie eigentlich gar nicht so unähnlich machten. Bis auf dass sie, die Krabben, schlussendlich natürlich das Nachsehen hatten, während die Familie mit ihnen die Kochtöpfe oder wahlweise auch die Gefriertruhe füllte.

Während ich dann also so ganz gemütlich meinen Kocher auspackte um meine lang ersehnte mexikanische Lieblingsmahlzeit zuzubereiten, die Familie im Wasser immer wieder entzückt aufschrie, weil sie irgendeine Krabbe mal wieder in den Finger gezwickt hatte und am Himmel die Sterne hervorkamen, da machte sich auf einmal ein leises Brummen über dem See bemerkbar.

Das Brummen wurde lauter und lauter und nahm ganz allmählich nicht ganz unähnliche Züge, wie eben jene des Rotors eines Hubschrauber an. Es war ein Hubschrauber. Er wurde lauter, dann wieder leiser, dann wieder lauter. Wo genau er sein Hubschrauberwesen trieb, konnte ich zunächst gar nicht so richtig feststellen. Aber er war ganz in der Nähe. Soviel war klar. Und ganz langsam meldete sich die Paranoia auf der einen Schulter, zusammen mit der Vernunft auf der anderen Schulter. Die Paranoia sagte: „Hey! Jetzt suchen sie das Seeufer schon mit Hubschraubern nach Wildcampern ab. Mach lieber deinen Kocher aus, schnapp dir ein Schilfrohr und geh baden, die haben bestimmt eine Infrarotkamera!“ – Die Vernunft sagte: „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, du Freak!?“

Das Ende vom Lied war dann, dass der Hubschrauber, der, wie ich später noch genauer ausmachen konnte, über dem gegenüberliegenden Seeufer in recht geringer Höhe irgendwas suchte, nach einer knappen Stunde (!) endlich das Weite suchte und über den nächsten Bergkamm verschwand. Puh! Und auch wenn die Vernunft glücklicherweise gesiegt hatte, seltsam war das Ganze allemal. Wer weiß, was in nicht allzu ferner Zukunft an solch idyllischen Spots alles los ist um uns Naturliebhabern etwas Einhalt zu gebieten und auf die von Holländern verseuchten Campingplätze zu treiben. Erst kommen die Drohnen und dann der Verweis, wer weiß, wer weiß… Aber ganz sicher kein Hubschrauber. So viel ist sicher.

Als ich mich dann mit vollem Bauch leicht verspätet endlich in die Hängematte bettete, hatte der für den nächsten Tag angekündigte Wind bereits dermaßen aufgefrischt, dass trotz fehlendem Hubschrauber immer noch ein Mordslärm herrschte. Das Laub der Bäume drehte und wand sich in der späten Brise und ich hoffte inständig auf ein Wunder, das mir für den morgigen Tag doch noch etwas Rückenwind bescheren würde. Meine Hängematte passte sich dem Naturgeschehen an und machte bei dem Tanz, den der Wind in den Bäumen vollführte, eifrig mit. Ich hatte keine Wahl und wippte mit. Wie sollte ich denn auch anders?

Zu guter Letzt gesellten sich 3 Wildschweine neben mich ans Seeufer. Zwei davon frönten ihrem natürlichen Trieb im Rhythmus des Windes, planschten, zerbrachen Äste, grunzten und stöhnten während das andere aus sicherer Distanz nur missmutig grunzte. In Anbetracht der Gesamtsituation um mich herum war mir das 3. Schwein wohl am sympathischsten. Allerdings hoffte ich inständig darauf, dass es seine miese Laune nicht an mir auslassen würde. Um etwa 5 Uhr morgens wiederholte sich das ganze Spektakel noch einmal. Und kurze Zeit später stand ich auf. Frisch und munter, gestärkt und ausgeruht für die bisher längste Etappe – bis nach Ste Marie! Aber ich hatte ja auch Zeit. Den Schweinen, die mich weckten, sei es gedankt.

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