Tunnelblick

14. Oktober 2016

Von Olvera auf der Vía Verde de la Sierra nach Dos Hermanas

Wie das halt meist so ist: Hat man mal eine schöne Bude als Behausung gefunden, hat man auch schon wieder kaum Zeit, dies nun wirklich mal auszukosten.

Der Morgen quälte sich zwischen den Folgen der vergangenen Nacht, einem schläfrigen Supermarktbesuch und den verzweifelten Bemühungen, eine wichtige PIN-Nummer in einem Haufen unwichtiger Quittungen wiederzufinden, in den Mittag.  Und als ich den vermissten Zettel dann doch endlich an jener Stelle wiederfand, wo er eigentlich auch hingehörte, nämlich in meinem Geldbeutel, musste ich entrüstet feststellen, dass mir die all so wichtige PIN-Nummer zu Beginn meiner Reise wohl doch nicht so wichtig war. Keine PIN-Nummer. Auch nicht auf dem Zettel. Ich hatte schlicht und ergreifend darauf verzichtet, sie irgendwo zu vermerken. Warum auch immer. Letztlich erinnerte ich mich aber daran, dass es sich damit wohl notgedrungen auch leben lässt. – Bloß nicht zu viele PIN-Nummern mit sich rumschleppen, da verliert man nur den Überblick…

Na ja, zumindest meine Fähre auf die Kanaren konnte ich an diesem Morgen noch buchen. Das war doch schon mal was. Schließlich hatte sich dieses Unterfangen nun bereits genug in die Länge gezogen.

Olvera
Mein Ziel lag heute ganz eindeutig in Dos Hermanas, auch wenn mich Diego und seine Familie ständig eines besseren belehren wollten. Dort würde mich am Abend Maria erwarten. Sie hatte ich bereits anno 2014 auf einer Radtour kennengelernt und wir freuten uns beide auf ein Wiedersehen.

Doch zunächst stand der Familienbesuch in La Muela auf dem Programm. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? Zur leicht verspäteten Abfahrtsstunde hinzu kam, dass La Muela auf einem Berg liegt, den ich mir auf dem Weg nach Dos Hermanas getrost hätte sparen können.

Die Verabredung mit Diego, mir bis dorthin zumindest Gepäck-Geleitschutz zu gewähren, scheiterte dann schlicht an der unauffindbaren PIN-Nummer meinerseits. Als sich dieses Problem dann, wie schon erwähnt, nun doch gelöst hatte, beziehungsweise beiseite getan hatte, war es nun Diego, der sich dank meiner „Geldsorgen“ wohl selbst dazu genötigt sah, mal der Bank seines Vertrauens, einen Besuch abzustatten. So haute es mit der Verabredung abermals nicht hin.

Man verabredete sich also notgedrungen unterwegs auf der Hauptstraße. Irgendwo im Nirgendwo würde er mich schon überholen. Da es mein Fahrrad-Navi allerdings nicht so mit Hauptstraßen hat, vor allem dann nicht, wenn in die selbe Richtung ein hübscher Naturpfad, die Vía Verde de la Sierra, führt, verpassten wir uns. Wie konnte es auch anders sein?

Als ich dann schlussendlich doch mit der Hauptstraße Vorlieb nehmen und von der Via Verde abzweigen musste, stellte sich mir noch ein Viehhof in den Weg! – Welcher Stier ihn auch immer geritten hatte, der Bauer war offensichtlich der Meinung, den Feldweg zwischen Straße und Via Verde würde sowieso niemand brauchen. Folglich stellte er einfach mal einen Zaun drum herum und versah diesen zusätzlich noch mit einem netten Schild, auf dem vor wilden Stieren gewarnt wurde. Na Danke! Das war mir dann doch zu heiß. Also abermals zurück bis zur vorigen Abzweigung. Die erste hatte ich ob des Zauns natürlich verpasst.

Bis ich diese erreichte, hatte ich auch schon wieder Diego an der Strippe: „Wo ich denn stecke???“ – Tja, ich verzichtete nun auf genauere Erklärungen und sagte so etwas wie „er sei wohl zu schnell gefahren“, woraufhin er nochmal kehrt machte und ich mich vergewisserte, dass ich mich dieses Mal auch ganz sicher auf der richtigen Strecke befand.

Kaum sah ich ihn aus der Ferne auf mich zukommen, fuhr er auch schon an mir vorbei. Nanu? Hatte er da was nicht richtig verstanden? Ich wartete kurz, dann fuhr ich weiter. Ich würde mich schon irgendwie nach La Muela durchboxen, ob jetzt mit oder ohne ihn.

alternative Beförderungsmethoden
Was er auch immer trieb, er kam kurze Zeit später wieder angefahren und hielt an. Okay, soweit so gut. Das Gepäck konnten wir nun einladen.

Aber damit nicht genug: Den folgenden paar Wortfetzen, die ich verstand, entnahm ich, dass es Diego nur für eine mäßig gute Idee halten würde, wenn ich mich mit meinem Fahrrad auf dem Weg bergauf am Rückspiegel festhalten würde. Dem pflichtete ich nickend bei. Ein Seil müsse her. …? Okay, das könnte lustig werden. Spanngurte waren genug vorhanden und Diego verknotete sie auf abenteuerliche Weise an der Anhängerkupplung seines Autos. Mal schauen wo das endet. Entweder in La Muela, in einem Straßengraben oder im Heck des Golfs.

Achterbahnfahrt
Die Strecke bis zum Heimatort von Diego war einer Achterbahnfahrt nicht gerade unähnlich. Zunächst beschwerte ich mich durch lautes Grölen und ausladenden Handzeichen immer dann, wenn er mal wieder über die 30 km/h beschleunigte. Irgendwann gewöhnte ich mich allerdings auch daran und hatte eine heiden Freude an dem lässigen Anstieg. Ruben, sein Sohn, machte währenddessen unablässig Fotos von mir, dem Auto, Diego, der Landschaft, …eigentlich von allem, was er vor die Linse bekam. Die meisten Schwierigkeiten bereitete mir nun weniger das Bergauffahren, sondern vielmehr die komplizierten Bremsmanöver, wenn es mal bergab ging. Gelang es mir nicht das Seil schön straff zu halten, konnte die Sache schon ganz schön ruckelig werden.

Familienbesuch in La Muela
Nach kurzer Zeit waren wir in La Muela angekommen, wo wir erst einmal in der Bar von Diegos Cousin auf ein schnelles Bier einkehrten um die zittrigen Knie wieder etwas zu beruhigen. Zum Mittagessen gab es später leckere, selbst eingelegte Oliven und einen Bergeintopf mit reichhaltiger Fleischzugabe. So gestärkt, machte sich auf der weiteren Strecke nicht einmal mehr der Rotwein bemerkbar, den ich zum Essen trank. Meine sonst absolut standfesten Prinzipien, Alkohol frühestens am Abend zu trinken, lies ich ob der freundlichen Familieneinladung heute ausnahmsweise mal beiseite.

Frisörtermin
Doch bevor es weitergehen konnte, stand erst mal noch ein kleiner Frisörtermin an, hatte sich während der letzten vier Monate doch eine beträchtliche Matte auf meinem Kopf breit gemacht. Eigentlich wollte ich mich nicht wirklich von ihr trennen, stand doch jeder Millimeter Haarwuchs irgendwie für mehrere hundert Kilometer Fahrradstrecke. Trotzdem… Es könne ja durchaus schicklich sein, nicht ganz so zerlumpt auszusehen, wenn ich in Dos Hermanas ankomme und daraufhin noch knappe 3 Wochen in Cádiz rumhäng. Die Gründe dafür darf sich nun jeder selbst zusammenreimen. Also weg mit der Matte!

nach dem Frisörtermin
Wie das nun mal so ist bei einem Frisörbesuch: Man betont ausdrücklich die Wichtigkeit ordentlich was stehen zu lassen und am besten nur ein klein wenig an den Seiten wegzunehmen, so dass es eben gut aussehe und eine schöne, lustige Frisur abgebe, wenn man sich nach einem Strandtag durch das salzige, sonnengetrocknete Haar fährt…
Doch sind solche Worte meist vergebens. Es blieb wie immer kaum was übrig.

Schnell stutzte ich noch meinen Bart zurecht, um wieder für das nötige Gleichgewicht in meinem Gesicht zu sorgen. Dann verabschiedete ich mich dankend, mit vollem Bauch und wenigen Haaren von Diegos Familie für die nächsten paar Kilometer bergauf, ehe ich am Fuße des Berges wieder auf die Via Verde einschwenken würde, um daraufhin Tunnel um Tunnel bis nach Dos Hermanas zu durchqueren.

Die Sierra
Nun ja, so ganz leicht war es dann doch nicht. Zwar führte die Vía Verde de la Sierra mit ihrem fahrradfreundlichen Höhenprofil noch ein gutes Stück aus den Bergen hinaus, dann ging es jedoch für weitere 50 km nur noch durch mäßig flaches Hügelland. Die Uhr schien mir abermals mit ihren Zeigern entgegen zu laufen. Eigentlich war es mir ja bereits in la Muela klar: Du wirst heute erst mitten in der Nacht ankommen. Und nicht nur das: Du wirst heute sogar knappe 2 Stunden mitten in der Nacht am Rande einer Schnellstraße zubringen!

Tunnel auf der Vía Verde de la Sierra
Während ich gemütlich durch die vielen Tunnel des Naturpfades herabrollte, die, wie mir David erklärte, übrigens ein Überbleibsel nie fertig gestellter Eisenbahnverbindungen aus der Fanco-Ära sind (Was zwar die vielen Bahnhöfe am Rande der Strecke erklärt, aber die Frage aufwirft, warum man diese um alles in der Welt vor den Schienen hingestellt hat?), konnte ich diese ungemütliche Erkenntnis zwar noch ignorieren, aber irgendwann müsse ich an meinem Beleuchtungssystem feilen, sonst würde man weder mich sehen, noch ich würde irgendetwas sehen. (Wie sich später jedoch glücklicherweise herausstellte, schien der Vollmond in jener Nacht taghell. Er war wie jedes Jahr zu dieser Zeit, ein weiteres Mal dabei, der Erde ungewöhnlich Nahe zu kommen.)

Schafe auf der Vía Verde de la Sierra
Doch zurück zu den Schafen. – Schafe!? Welche Schafe? – Ich war auf einmal umringt von ihnen! Schafe, Böcke, Ziegen, irgendetwas anderes, noch ein paar Schafe, ein paar Hunde und ein Mofa-Fahrer. Die weitere Via Verde war nun fortan gesäumt von kleinen schwarzen Kügelchen und mehreren Pfützen. Geregnet hatte es seit ein paar Tagen nicht mehr. Bemerkenswerterweise musste ich feststellen, dass es Schafen wohl einfach so aus der hohlen Hand heraus gelingt, in einer astreinen Zickzack-Linie zu pinkeln, während sie einander hinterher dackeln. – Hmm…? Ich lass das jetzt einfach mal so stehen.

Als die Via Verde gegen später normalen Feldwegen Platz machte, fiel mir außerdem auf, dass es mir heute noch gar nicht gelungen war, irgendwelchen Müll aufzusammeln. Na ja, wenn man entlang eines Naturpfades fährt, könne man das ja wohl auch erwarten. – In diesem Sinne: Ein Lob an die vom eisernen Rüstungswillen Francos erdachten und (wie es in Spanien so oft der Fall ist) nie zu Ende gebauten Eisenbahnlinien einer recht grauen Ära der spanischen Geschichte. Heute sind sie wohl der einzige Ort im ganzen Land, wo kein Müll herum liegt. Aus einem militärischen Vorhaben wurde ein gelebter, ökologischer Gedanke. Gefällt mir!

Trotzdem hatte ich immer noch keinen Müll. Schon verrückt, wie schnell man sich eine fixe Idee zur festen Aufgabe machen kann. Ich hielt also Ausschau. Nach Müll. Nach Dosen, Plastikflaschen, Altglas. Was man halt so findet. Die ließen natürlich nicht lange auf sich warten. Einen ganzen Haufen Getränkedosen fand ich vor. Immerzu nur die selben. Grüne „Monster“-Dosen und davon nicht zu wenige. (Der Energiedrink, den ich mir am gestrigen Tag einverleibt hatte.) Mindestens 20 oder 30 lagen über den selben Platz verstreut herum. Was sonst noch herumlag, erwähne ich lieber nicht. Jedoch war ich froh, dass ich nicht aus Versehen hinein getreten bin.

Angeekelt und leicht irritiert packte ich den größten Teil von ihnen in meinen Korb und machte mir ein klein wenig Gedanken darüber, was denn nun der Gegenverkehr von mir halten würde. Egal. Das Sinnieren über die Herkunft und den weiteren Verbleib der Dosen, machte während der weiteren Strecke sehr schnell dem Ärger über den Aspartam-verseuchten Mangosaft Platz, den ich am Morgen gekauft hatte. Man konnte ihn noch so sehr mit Wasser verdünnen, immer schmeckte man den Süßstoff heraus. Keine Ahnung wer so was mag? Ich jedenfalls nicht. Zudem noch völlig überflüssig: Ich brauche Kalorien! Keine Diät-Getränke!

Super Moon in El Coronil
In der Stadt, wo ich das zweifelhafte Energiegelage vom Vorabend entsorgte, musste ich mich dann auch um das bereits erwähnte Beleuchtungsproblem kümmern. Also band ich das Gepäck am Heck etwas hoch, befestigte eine kleine Notleuchte auf der Gitarre und klemmte meine leistungsstarke LED-Taschenlampe irgendwie in ein Gummiband-Konstrukt zwischen Wanderstab und Fototasche (vor meinem Vorderlicht hing das Zelt). So konnte mich eigentlich niemand mehr übersehen.

Die Nacht war lau, der Wind hatte nachgelassen und in den Bäumen zirpten die Grillen um die Wette. Am Himmel stand ein Mond, so groß, wie man ihn nur selten sieht und immer wieder huschten im Straßengraben, aufgeschreckt durch das Fahrrad, Kaninchen oder Ratten vorüber. Einmal begleitete mich ein solches Wesen sogar ein paar Meter entlang der Straße, zumindest hatte es den Anschein. Die Fragen, „Was?“ und „Ob da überhaupt was war?“, schlug ich mir recht schnell wieder aus dem Kopf.

Super Moon

Das hier ist übrigens der Mond.

Irgendwann war es dann nicht mehr weit. Ein paar Kilometer trennten mich noch von Dos Hermanas. Hier sollten sich meine Fahrradrouten vereinen. Genau hier fuhr ich anno 2014 (aus westlicher Richtung kommend) entlang meines Weges Richtung Süden. Es war ein starkes, erfolgreiches Gefühl, das sich da in mir breit machte. Ich freute mich auf Maria und auf ein paar leckere Tapas in der Bar „Jaula“.

Als ich dort endlich ankam, musste ich noch eine kurze Weile auf Maria warten, sie hatte noch eine Theaterprobe. Ich hatte es mir zwar gewünscht, aber natürlich empfing mich in der Tapasbar niemand unter lautem Zujohlen oder mit einem großen Banner, auf dem „Bienvenido Tobi!“ stand. Nein, nicht einmal der Kellner wollte mich bedienen. Mein Landebier musste ich an einem überfüllten Tresen bestellen, wo ich besser gleich zwei mitnahm. Bis das zweite dann getrunken wäre, würde sicherlich auch Maria aufkreuzen. Sie würde sich besser mit den Sitten und Gebräuchen, die in dieser Bar doch recht speziell sind, zurecht finden. Und so war es dann auch.

Es folgten 2 Tage mit 5 Hunden, viel Poesie, einem richtigen Bett und einem Engel, der seinem Namen alle Ehre macht.

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